Fluchttunnel Glienicke


Der Thomas-Tunnel


Basierend auf einem Exklusiv-Interview von Torsten Dressler
mit Detlef Schauer (9. Februar 2012), dem letzten Überlebenden des Thomas-Tunnels, der zum Zeitpunkt der Grabung 18 Jahre alt war.

Am 5. Mai 1962 gelang zwölf Leuten die Flucht durch den Thomas-Tunnel.

Der Jüngste, Detlef Schauer, war zum Grabungszeitpunkt 18 Jahre alt, der nächst Ältere war 55 Jahre, Max Thomas, nach dem der Tunnel benannt wurde, war 81 Jahre alt.


Biografie Detlef Schauer:

1. April 1943 als zweiter Sohn von Herbert (Maurer, später Kellner im Alten Ballhaus) und Dora (Hausfrau) in Berlin geboren; Bruder Manfred, geboren 1933, (später Kellner in West-Berlin). Onkel Erwin Schauer.

Detlef ging zur Grundschule bis zur 8. Klasse. Danach lernte er Maler beim VEB Malerei und Glaserei und war nach der Flucht noch 12 Jahre als Maler tätig.
Er besuchte regelmäßig seinen Onkel Erwin Schauer, der in der Staekstraße in Glienicke ein Grundstück hatte.
Auch sein anderer Onkel Werner Schauer wohnte in Glienicke, dieser flüchtet bald durch den ersten Glienicker Tunnel, den Becker-Tunnel.
Der Bruder Manfred arbeitete, als am 13. August 161 die Mauer gebaut wurde, bereits im Westen als Kellner.
Vater Herbert arbeitete als Kellner im „Alten Ballhaus" in der Behrenstraße in Ost-Berlin.

Durch den Mauerbau fiel für Vater Herbert das West-Trinkgeld als wichtige Einnahmequelle aus.
Die Familie war plötzlich getrennt.
Sie beschlossen zu flüchten: „Da haben wir gesehen, das das nichts mehr wird.“ Ein Grundstück im Märkischen Viertel wurde noch schnell verkauft.

Sie hatten durch Werner Schauer in Glienicke von dem Bau des Becker-Tunnels gehört.
Dort wollten auch Herbert, Dora und Detlef mitgehen. Zwei Tage vor der Flucht durch den Becker-Tunnel war Dora Schauer noch bei den Beckers gewesen, diese versicherten, sie bald anzurufen, wenn es soweit sei. Es gab eine verabredete Geheimnummer, die am Telefon genannt werden musste. Sie flüchteten zusammen mit Werner aber am 24. Januar 1962, ohne Herbert und Dora anzurufen. "Haben uns nicht mitgenommen, auf Deutsch gesagt."

Es gab einen Bekannten von Max Thomas, der spätere Macher des Tunnels, der das Ganze einfädelte und Max Thomas die Grabung in seinem Haus vorschlug. „Ich weiß nicht, ob sie den gesucht haben, irgendwas war da nicht in Ordnung, sind wir aber nie richtig hinter gekommen, der hat das alles an für sich eingefädelt, der wollte weg. ... Das war so ne spontane Sache, und der den Tunnel bauen wollte, der wollt ja auch nicht unbedingt: `Du, ich mach euch mal..`, der wird sie erst einmal angeheizt haben.“
Und Max Thomas „wollte weg, der wollte nicht mal im Osten begraben sein.“

Zum Zeitpunkt der Flucht war Detlef Schauer als Maler am Alexanderplatz tätig. Er ließ sich für die Zeit der Tunnelgrabung krank schreiben. Er war zudem gerade gemustert worden.
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Ausschnitt Lageplan Thomas und Becker-Tunnel, Foto Torsten Dressler

Der Tunnel:

Der Grabungsbeginn war am 19. April 1962.

Herbert Schauer gab vor, zusammen mit seinem Bruder bei Familie Thomas ein Haus zu bauen.
„Was meine Eltern damals gemacht haben, weiss ich auch nicht mehr. Auf einmal hieß es bloß, die buddeln da“.
Dann merkten die Grabenden, das sie es ohne Hilfe nicht schafften und fragten Detlef, ob er helfen könne.
„Im Alten Ballhaus Berlin, in der Behrenstraße,..., und dann hieß es auf einmal: Komm her, wir müssen Dir mal was sagen: Ich bin aus allen Wolken gefallen. Ich hab das wirklich geglaubt, der macht da am Haus was mit.“

Detlef Schauer stösst am 21. April zur Grabung dazu. „ Begeistert war ich nicht gerade. Hat ich doch noch meine ganzen Kumpels hier, war in einem Fußballverein noch mit drin gewesen.... Das Einzige was ich mir (gedacht habe), ich war ja schon gemustert, ich war 17, 18 sowieso, ... brauchst Du auch nicht bei der Volksarmee das mitmachen."

Die Grabung:

Es gab im Vorfeld eine Probebohrung aus dem Wohnzimmer heraus. Aber da gab es zu viel Beton.
Max Thomas suchte nach dem geeigneten Boden, indem er unter den Augen der Grenzsoldaten eine kleine Tanne mehrfach umpflanzte.
Dann wurde aus dem anliegenden Hühnerstall gegraben. Dort war die Erde lockerer.
Es wurde vereinbart, das, wenn die Lampe im Stollen aus gingen, die Arbeit eingestellt wurde. Als Warnsignal, wenn z. B. Grenzer vorbeigefahren fuhren.
„Opa“ Max schaute ungefährdet aus dem Fenster nach draußen, hatte einen guten Einblick in die Straße. Er führte auch Gespräche mit den Grenzern und versuchte sie abzulenken.

Der Keller wurde nie kontrolliert, obwohl das Haus der Beckers nur vier Häuser entfernt war. Anscheinend wurde dem 81-jährigen eine Republikflucht nicht zugetraut.
Insgesamt war Detlef bei 14 der 16 Grabungstage dabei.
„ Gut, das waren alles ältere, vernünftige Leute. Jeder wollte nur weg, weg, weg, das wir das schaffen. Da hat keiner groß gesprochen oder wat. Nur sehen, fertig und weg.“
Max hat aufgrund seines Alters nicht mit gebuddelt, „obwohl er für sein Alter noch kräftig war.“

Die Arbeit im Tunnel wurde durch den „Macher“ fachmännisch verrichtet. Der Tunnel wurde mit Holz verstrebt und dann abgestützt.
Das Holz für die Stempel im Tunnel wurde im Haus zurecht gesägt.
Es gab keine Komplikationen. Es brach nichts ein, es gab keinen Wassereinbruch.
Der Boden war sehr hart, dafür aber auch sehr stabil. „Das war ne ganz schöne Knochenarbeit, das da immer abzukratzen.“

Der abgetragene Sand wurde mit Eimern Richtung Ausgang gebracht, dort wurde der Eimer mit einer Seilwinde im Hühnerstall nach oben gezogen, in eine Schubkarre verladen und dann, verdeckt durch eine Mauer, in den anhängigen Pferdestall gebracht.
Dieser Weg war von außen nicht einsehbar.
Weil Detlef Schauer der Jüngste war, fiel ihm die Aufgabe des Transports der Eimer im Stollen zu.

Der Tunnel wurde durch normale Glühbirnen beleuchtet, die ja auch als Warnlampen dienten.
Frau Thomas kümmerte sich um die Versorgung. Beim Essen wurde sich abgewechselt, damit die Grabung weiter gehen konnte.
„War immer so eine Kettenarbeit. Und dann wurde mal wieder ausgewechselt. Aber Tag und Nacht. Nachts da hat keiner geschlafen.“

Keiner verließ während der Grabung den Tunnel, geschlafen wurde stundenweise.
Der Tunnel wurde 32 m lang, mit einer Höhe bis zu 1,75m, „um es unseren Frauen so bequem wie möglich zu machen.“ (Max Thomas)


Vorfälle:

Im Thomas-Haus wohnte auch noch ein junges „Frollein“ zur Untermiete, die als Krankenschwester arbeitete. Ein junger Grenzsoldat kam und wollte die junge Dame mit einem Freund besuchen. „ Und wir, da haben wir gedacht, jetzt sind wir aufgeflogen. (...) Weil die auf einmal da waren. Aber die wollten nur das Mädel sprechen. Aber die war nicht da gewesen. Und die haben da Gott sei Dank nicht gewartet.“

Besagte Krankenschwester bekam von der gesamten Grabung nichts mit. „Vielleicht wäre sie ja sogar mitgegangen, wenn sie es gewusst hätte, aber, naja, da hatten wir aber keinen Einfluss drauf.“


Die Flucht:

Der Durchbruch wurde am Abend des 5. Mai 1962 erreicht.: „`So, jetzt könnt ihr durch`. Opa zuerst, haben sie alle oben gewartet, richtig angestellt, runter gegangen, und dann ging der nicht so durch zum Anfang. Dann wollte der nicht mehr durch. `Ich schaff das nicht mehr!`“

Max Thomas sollte zuerst durch den Tunnel. „Weil es sein Grundstück war.“ Aufgrund seines Alters kam er die Böschung am Ausgang des Tunnels nicht hoch. Ausserdem war das Ausgangsloch recht klein. Man konnte sich nicht drehen. Max blieb im Tunnel stecken.

Er geriet zunächst in Panik, schimpfte laut. Das war sehr gefährlich, weil der Tunnelausgang noch auf dem Gebiet der DDR war und eine Grenzpatrouille hätte jederzeit vorbeikommen können. Dann schob sich Detlef Schauer an ihm im engen Tunnel vorbei, hat noch „ein bisschen nachgeholfen“, hat mit dem Spaten den Ausgang noch ein wenig vergrößert, und dann zog er Max Thomas aus dem Tunnel heraus.

Danach ging es recht schnell. „ Immer einer nach dem andern, einer hat den andern rausgezogen, wissen Sie, waren ja bloß zwölfe, waren ja nicht so viele.“

Hinter dem Tunnel ging es schnell die Böschung hoch, die Blickschutz bot. „ ..ein Glück, da konnte man sich hinter der Böschung dann hinsetzen, also, wenn die gekommen wären.“

Als alle draußen waren, gingen sie auf die im Westen liegende Landstraße. “Und das ging dann auch alles ruck zuck, und das hat dann auch nicht lange gedauert, entweder hat dann einer angerufen, dann kamen ja die Franzosen. Und dann unsere, mit dem Funkwagen (...), und die haben uns dann mitgenommen.“




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Max Thomas (mit Hut) und Mitflüchtende nach der Flucht auf dem Kurfürstendamm.

Nach der Flucht:

Zunächst einmal fuhren die Schauers zu ihrem Sohn und Bruder Manfred. „ Der hat was mitgekriegt, die haben da mal so Andeutungen gemacht, das wir nach Buddelmuddel fahren. Erst wo wir rüberkamen, standen wir vor seiner Tür, der ist bald aus den Latschen gefallen.“
Von dort ging es ins Auffanglager Marienfelde.
Die Gruppe löste sich schnell auf: einige fuhren bald zur Verwandtschaft nach West-Deutschland. Andere, „die wollten gar nicht in Berlin bleiben.“
Die Krankenschwester, die mit im Hause Thomas gewohnt hatte, bemerkte das Fehlen der Familie Thomas zwei Tage nach der Flucht. Sie ging zum Bürgermeister und erstattete Anzeige. Die Stasi liess sie gehen. „ Die ham gesagt, die hätte ja sonst mit abhauen können.“
Schnell wurde eine Wohnung in Neu-Westend bezogen, ganz in der Nähe der Wohnung von Bruder Manfred.
Detlef vermied es mit dem Auto über die Transitstrecke nach Westdeutschland zu fahren, „die hätten uns ja aus dem Transit rausgeholt. Wussten wir ja nicht..“

Detlef arbeitete weiter als Maler, bis 1967, dann war er, nach er geheiratet hatte, bei der Berliner Stadtreinigung tätig war, 32 Jahre lang, bis zur Rente.


Archäologiebüro ABD-Dressler
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