(Auszug aus dem Glienicker Kurier vom Dezember 2009)

"Die Erinnerung wach halten"
(ip) "Viele Institutionen, Gerichte, Ausschüsse, Kommissionen, Politiker und andere haben sich nach dem 9. November 1989 mit dem Schießbefehl an der DDR-Grenze auseinandergesetzt," sagte Bürgermeister Joachim Bienert im Rahmen einer Feierstunde am 7. November in Glienicke.
Formaljuristisch sei man zu dem Ergebnis gekommen, dass es eigentlich keine Verpflichtung gab, gezielte Todesschüsse auf flüchtende Menschen abzugeben.
"Es wurde die Erlaubnis dazu erteilt und die. dabei mehr oder weniger in eigenen Ermessen zu handeln".
Die reale Umsetzung allerdings sei eine andere gewesen: Ermessen, Abwägung, Entscheidungsfreiheit habe es nie gegeben, so Bienert.

Glienicke ehrt Maueropfer
Am 24. November 1986 starb an der Grenze zwischen Glienicke und Berlin der junge Michael Bittner bei dem Versuch, an der Nohlstraße die Grenze Richtung Freiheit zu überwinden.
Mehrere Ausreiseanträge waren zuvor abgelehnt worden und die Angst vor der erneuten Einnberufung in den Armeedienst saß ihm stets im Nacken.
Als er schon mit der Leiter die Krone der Mauer erreicht hatte, nahmen ihn zwei Grenzsoldaten unter Beschuss.
Nach mehr als dreißig Schüssen, wie in den Stasi-Unterlagen vermerkt ist, war Bittner tödlich verletzt.

Zeitzeugen, Bittner

Seine mutige Tat ehrt die Gemeinde nun, indem sie den Platz zwischen Grundschule und Mensa anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls nach dem Maueropfer benannte.
Die Benennung geht auf einen Beschluss der Gemeindevertreter zurück.
An der Zeremonie nahmen rund 150 Gäste teil.
"Ich denke, dass der Prozess der Aufarbeitung der Unrechttaten des DDR-Regimes noch nicht abgeschlossen ist", erinnerte der Bürgermeister.
Mit der Benennung des Platzes nach Michael Bittner soll auch daran erinnert werden.
Bienert mahnte, das Recht eines jeden auf Selbstbestimmung und Verwirklichung seiner Träume" in Ehren zu halten und dafür einzutreten.

Bienert, Zeitzeugen

Ein Zeichen für die Freiheit setzten nach der feierlichen Enthüllung Schülerinnen und Schüler den Neuen Gymnasiums Glienicke.
"Heute ist Deutschland durch den mutigen Einsatz vieler Menschen wieder ein Land.
Aber es ist dennoch nicht ohne Mauer: Unsichtbare, im Kopf, zu Nachbarn oder Fremden, Ossis, Wessis, Mitbürgern und Zugereisten", war auf den Zetteln zu lesen, die die Gymnasiasten an vielen farbebfrohen Luftballons befestigt hatten.
Diese verkauften sie gegen einen kleinen Obolus an die Gäste.
Gemeinsam ließ man die Ballons starten.

Mit Zeitzeugen im Gespräch
Im Anschluss lud die Gemeinde zu einer Feierstunde in die Alte Halle ein.
Ein Vortrag der 14jährigen Schülerin Franziska Hortien zur Geschichte der drei Fluchttunnel bildeten den Auftakt für ein Zeitzeugengespäch.
Moderatorin und Historikerin Grazielle Apitz befragte unter andrem Gisela Bürks nach ihren Erfahrungen mit der Berliner Mauer hier im Ort.
Den Mauerbau hatte diese von England aus im Fernsehen beobachtet, wohl wissend, dass ihre Eltern die Übersiedlung von Berlin nach Glienicke 1961 bereits vorbereitet hatten.
Die Wohnung in Hermsdorf war bereits angemietet.
In der Nacht zum 13. August kehrten Sie ein letztes Mal in ihr Wohnhaus zurück, um die verbliebenen Sachen zu holen.
Am nächsten Morgen war der Weg in den Westteil Berlins bereits mit Stacheldraht versperrt.
Nur wenige Monate später, im Januar 1962, flohen die Eltern gemeinsam mit weiteren Personen durch den Becker-Tunnel in die Freiheit.

Zeitzeugen-Bild

Durch einen Tunnel, den Aagaard-Tunnel, gelangte auch Dr. Hans-Georg Müller in den Westen.
Der damalige Student war sogar maßgeblich an dessen Bau beteiligt.
An die zehn Versuche hatten seine Eltern unternommen, Kontakt zu Fluchthelfern zu bekommen.
Sogar Grenzsoldaten hatte der Vater, ein Zahnarzt aus Dresden, nach einem geeigneten Fluchtort gefragt.
Der Glienicker Sandkrug war ihm darauf empfohlen worden.
Nach nur zwei Wochen Bauzeit gelang die Flucht.

Einen regen Kontakt nach Berlin-West und seine freiheitlich-demokratische Erziehung führte Franz Plunzke als Gründe für seinen Fluchtversuch an.
Er sei " immer etwas neben dem System" gewesen, wie der ehemalige Schulkamerad Michael Bittners erzählte.
"mit 13, 14 Jahren habe ich gemerkt, dass nicht Fleiß und Mühe, sondern die Mitgliedschaft in Organisationen belohnt wird."
Mit Kollegen unternahm er Anfang der 80er Jahre einen "todsicheren Fluchtplan".
Mittels eines vom Armee-Stützpunkt im Oranienburger Ortsteil Lehnitz gestohlenen Panzers wollten die Drei die Grenze überwinden.
Kurz davor blieb das Gefährt mit einem Motorschaden liegen.
Im März 1973 verurteilte ihn ein DDR-Gericht zu achteinhalb Jahren Haft.
Von dieser Zeit ist Plunze auch heute noch geprägt.
"Am 10. Juni 1987 bin ich dann doch noch in die Freiheit gekommen."
Die Bundesrepublik hatte ihn "freigekauft".